Beitrag von Günter Nooke MdB, Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU Fraktion, Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs

8. Berliner Theologisches Gespräch
„Der Mauerbau und die Christen in Deutschland – eine Bestandsaufnahme“

am 09.10.01 in der Vertretung des Saarlandes beim Bund

Günter Nooke (MdB):

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, verehrter Altbischof Dr. Kruse,
sehr geehrte Damen und Herren,

in meinem Einführungsbeitrag möchte ich über „Die politische Verantwortung der Kirche“ sprechen, weil ich glaube, dass wir damit dem eigentlich Gesprächsgegenstand und vielleicht Streitgegenstand näher kommen als, wenn ich über Christen vor und während der Friedlichen Revolution und nach der Wiedervereinigung spreche. Die Wahl der zwei Referenten und den mitversandten Text, deute ich so, dass das Hauptaugenmerk auf der Zeit der Teilung liegen soll. Das Thema Mauerbau ist deshalb wichtig, weil danach nicht so weiter verfahren werden konnte wie zuvor, denn die Begegnungsmöglichkeiten der noch einen Kirche z. B. in Berlin-Brandenburg waren ab 1961 extrem eingeschränkt und führten 1969 zur Abtrennung der Evangelischen Kirchen in der DDR. .

Ich möchte auf Grund der Zeit und im Interesse der anschließenden Diskussion in diesem Arbeitskreis meine Anmerkungen in zugespitzten Form vortragen, wohl wissend, dass dadurch die Gefahr des Missverständnisses nicht gerade verringert wird.

Deshalb noch zwei Vorbemerkung: Erstens bedanke ich mich herzlich für die Einladung, auch wenn ich kein Vertreter des DDR-Kirchenestablishments bin. Zweitens: Ich bin getaufter, konfirmierter und damals wie heute praktizierender Christ. Gerade deshalb ist mir nicht gleichgültig, was meine Kirche tut. Die Gemeinde, wo ich getauft und konfirmiert wurde in Forst-Noßdorf, gehörte im Dritten Reich zur Bekennenden Kirche; sie war die erste Pfarrgemeinde des späteren Propstes Günter Jakob.

Wo wir herkommen und zum geographischen Ort: Das Gebiet der neuen Bundesländer, das alte Mitteldeutschland, war Missionsgebiet der katholischen Kirche und wurde zum Stammland der Reformation. Luther verstand darunter geistige Erneuerung und nicht Rebellion.

Entchristlicht war dieses Gebiet zwischen Elbe und Oder damit „weiß Gott“ nicht. Aber sicher ist es richtig, dass die protestantische Prägung für das Handeln der Kirchen und einzelner Personen von wesentlicher Bedeutung ist: Sie bot mehr Chancen, aber auch mehr Risiken! Damit soll vorerst nicht mehr gemeint sein, als dass damit zwar ein Gewinn an Freiheit, aber auch ein Verlust an Bindung im Sinne von Halt einherging. (Katholischen Geistlichen war es in der DDR verboten sich zu politischen Fragen zu äußern; kein Beitrag zum mündigen Bürger, aber auch keine Angriffspunkte dadurch für den Staat.) Priester

Die Reformation war, wie oben angedeutet, auch so etwas wie eine Gegenbewegung - sei es nun in reformerischer oder revolutionärer Absicht.

Vielleicht darf deshalb die These gewagt werden: Die Auseinandersetzung mit staatlicher und kirchlicher Macht auf Grund theologischer Überzeugung und durch christliches Handeln einzelner hat im Osten Deutschlands und damit vielleicht auch in Berlin-Brandenburg eine ganz besondere Tradition hat.

Ich mache keine Hehl daraus, dass darin Chance und Risiko zugleich liegen. Denn keiner kann der Kirche eine politische Rolle zuweisen, aber die Kirche ist deshalb nicht unpolitisch.

Aber warum Luthers „Zwei-Reiche-Lehre“ so oft mißverstanden wurde, warum Hitler seine Wahlerfolge vor allem in den evangelisch geprägten Gegenden hatte, die deutschen Christen wesentlichen Einfluss auf alle Landeskirchen im Osten gewannen und warum daraus dennoch nicht genug gelernt wurde für die nachfolgende Diktatur im SED-Sozialismus, sind quälende Fragen an uns Protestanten.

Auf die opportunistische Anpassung und die Häresie der Deutschen Christen, die zur ideologischen Gleichschaltung mit dem Nationalsozialismus geführt hatte, folgte allerdings auf Drängen der „Bekennenden Kirche“, die während des Dritten Reiches die evangelischen Christen vor dieser Gleichschaltung zu bewahren versuchte, auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Es kam mit Berufung auf die Barmer Theologische Erklärung von 1934, die in ihrer fünften These die Rolle von Kirche und Staat klärte, zu einer Erneuerung. Die Schuld der Kirche wurde im „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ im Oktober 1945 und zwei Jahre später im „Darmstädter Wort“ bekannt.

Das alles war bekannt und nicht unwichtig für unsere kirchliche Arbeit in der DDR. Kritische Fragen an die Verantwortlichen der Kirchenleitung zu stellen war auf Grund der politischen Leisetreterei (im positiven Fall) bzw. auf Grund der „gewissenhaften“ Erfüllung staatlicher Erwartungshaltungen (im schlimmeren Fall) also mehr als geboten. Im April 1989 stellte ich z. B. meinem Cottbusser Generalsuperintendenten in einem Gespräch, in dem wir uns über die weitere Arbeit an dem von unserem Friedenskreis herausgegebenen, aber aus staatlicher Sicht nicht genehmigten Info-Blattes „Aufbruch“ gestritten hatten, die provokante Frage: So wie Sie, kann man eigentlich nur reden, wenn die Kirche ihr Schuldbekenntnis für die Zeit, wo das hier mal vorbei ist, schon in der Schublade hat? Ich bin nicht sicher, ob mein Gegenüber die Frage überhaupt verstanden hat oder an sich heran ließ. Es waren jedenfalls diese nicht als Politiker, sondern für mich als Christ frustrierenden Erlebnisse, die mich an einigen Vertretern meiner Kirche zweifeln ließen. Dass sie politisch wenig überzeugten, damit konnte ich leben. Schmerzlich war, dass sie aus ihrer eigenen Geschichte und Theologie so wenig gelernt hatten.

Damit ist natürlich nicht die Rolle der evangelischen Kirche insgesamt beschrieben, die zu jeder Zeit wichtige Freiräume und Begegnungsmöglichkeiten in der geschlossenen DDR-Gesellschaft bot. Ich bin aber auch überzeugt: Eine ehrliche Bestandsaufnahme wird erst möglich sein, wenn diese Kirche nicht mehr versucht, jene einzelnen zu decken, die in ihren Kontakten zur Staatssicherheit und mit ihrer Anbiederung staatlichen Stellen gegenüber zu weit gegangen waren. Manfred Stolpe ist auch nach dem Bekanntwerden seiner konspirative Kontakte zur Staatssicherheit der DDR zweimal demokratisch zum Ministerpräsidenten im Land Brandenburg gewählt worden. Damit kann ich als Politiker professionell umgehen. Wir nicken uns auch heute noch, wenn wir uns z. B. im Vermittlungsausschuss treffen, freundlich zu. Aber dass die Kirche, meine evangelische Kirche sich von seinem Handeln als Sekretär des Bundes des Evangelischen Kirchen und später als Konsistorialpräsident nur völlig unzureichend distanziert hat und damit den Generalverdacht der Konspiration mit dem SED-Regime auf die Kirche selbst gezogen hat, darf nicht das letzte Wort bleiben.

Dass es Fehlverhalten gab, lag nicht nur in der Natur des Menschen, sondern hatte auch strukturelle Ursachen. Während der Vatikan und mit ihm die zentral geleitete katholische Kirche immer auch selbstMacht ausübte und Orientierung gab, war die evangelische Kirche synodal, d. h. dezentral und demokratisch, verfasst, und gab sich welt- und religionsoffen. Für das Lernen demokratischer Verfahren und einer offenen Diskussionskultur war das von wesentlicher Bedeutung.

In dem einen Fall konnten katholische Christen oder Priester sich auf die Order aus Rom („Wir haben Weisung“) zurückziehen und mussten sich nicht auf unerquickliche Gespräche mit Lehrern und staatlichen Stellen einlassen. Ihre Freiheit, eigenverantwortliche Wege zu gehen, war begrenzt. Gespräche mit dem Staat führte in der Regel nur der Bischof. Damit war die Versuchung der Grenzüberschreitung, die mit solchen Gesprächen immer verbunden war, auf wenige Personen begrenzt. Eigenverantwortliches Handeln ist in keiner Diktatur gefragt, insbesondere waren die Machthaber im SED-Staat daran interessiert, die Kirchen „auf die Befriedigung privater religiöser Bedürfnisse durch gottesdienstliche Kulthandlungen“ (Eberhard Jüngel) in abgeschlossenen Räumen zu reduzieren.

Es ist sicher nicht ganz falsch, wenn ich aus meiner (protestantischen) Erfahrung den Eindruck erhielt, dass diesem Anliegen auf Grund der inneren Struktur die katholische Kirche eher entsprechen konnte als die evangelische. Sie hatte es nicht nötig – weder politisch noch theologisch – sich in besonderem Maße auf den Staat und den real existierenden Sozialismus im Osten Deutschlands einzulassen. Dieser Abstand der katholischen Amtskirche, der in der Öffentlichkeit oft größer wirkte als er wirklich war, hat mich zu DDR-Zeiten im Vergleich mit der „Kirche im Sozialismus“, dieser unseligen Formel nach dem Antrittsbesuch des Bundes der Evangelischen Kirchen am 6. März 1978 beim Staatsratsvorsitzenden und SED-Chef Erich Honecker, immer beeindruckt. Relativ gab es wohl in der katholischen Kirche bei einzelnen Priestern und Christen nicht weniger Verfehlungen, konspirative Stasikontakte und Grenzüberschreitungen als bei Protestanten. Doch nie kam der Verdacht auf, die Unabhängigkeit der Kirche insgesamt sei gefährdet gewesen.

Die Neigung, sich politisch nicht völlig zu verweigern, war nach meiner Erfahrung bei Katholiken größer als bei evangelischen Christen; sie waren relativ häufiger Mitglied in der Blockpartei CDU und engagierten sich oft aus ganz ehrlichen pragmatischen Motiven vor Ort in den Städten und Gemeinden. Dieses unbefangenere Verhältnis zur Macht zeigte sich auch in den Monaten des Zusammenbruchs der DDR in der größeren Bereitschaft von Katholiken, politische Verantwortung zu übernehmen, während so manche protestantisch geprägte Oppositionsgruppe noch darüber stritt, ob Macht nicht an sich etwas Böses sei.

Zwar verringerte sich die Mitgliederzahl der evangelischen Landeskirchen im Osten im durchorganisierten, diktatorischen und atheistischen Umfeld der DDR kontinuierlich. Aber wenn es eine Institution in der DDR gab, die - formal sogar mit verfassungsmäßig garantierter Unabhängigkeit ausgestattet - überhaupt in der Lage war, eine relevante Anzahl von Menschen zu erreichen und somit ein gewisses politisches Gefährdungspotential für die Diktatur darstellte, dann war es die Evangelische Kirche in der DDR!

Eberhard Jüngel bezeichnete in seinem Beitrag vor der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ zum Thema „Die Haltung der evangelischen Kirchen zum SED-Staat im geteilten Deutschland“ am 14. Dezember 1993 in Erfurt die Funktion der evangelischen Kirche als „Gegenöffentlichkeit in einer entmündigten und geknebelten Öffentlichkeit“. Ich selbst habe die evangelische Kirche, als es um Organisation und die zu diskutierenden Inhalte der Ökumenischen Versammlung in der DDR im Rahmen des konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ging, aufgefordert, sie solle „ihre politische Verantwortung wahrnehmen, insbesondere die Evangelische Kirche als einzig relevante Opposition in einem totalitären System.“

Genau in der hier beschriebenen Funktion bestand die Herausforderung der evangelischen Kirche, der Pfarrer und jedes Gemeindemitglieds. Sie alle befanden sich in einem spannungsvollen Gegensatz zwischen kirchlichem Auftrag und politischer Erwartungshaltung unter den konkreten Bedingungen einer Diktatur. Letztere wiederum war hoch aufgeladen durch die gegensätzlichen Erwartungen, die zum einen der SED-Staat an die Kirche stellte, nämlich gerade nicht diese Gegenöffentlichkeit herstellen und die Rolle einer sonst nicht vorhandenen Opposition ausfüllen, und andererseits die Erwartung des aufgeklärten Staatsbürgers und Christen an dieselbe Kirche, genau das zu tun. Kirchliche Oppositionsgruppen, die keineswegs in der Mehrzahl das Dach der Kirche suchten, sondern unter diesem aufwuchsen, bauten darauf ihren politischen Druck gegenüber der Amtskirche auf.

Im Osten gewöhnte man sich indirekt und über 40 Jahre immer stärker an die von staatswegen organisierte Realität. Gott ging den Menschen nicht durch eine Erkenntnis verloren oder durch die Reden der SED-Genossen. Vielmehr spielte er im Laufe der Zeit in ihrem Leben eine immer geringere Rolle. Es war so normal, nicht getauft zu sein, zur Jugendweihe zu gehen und bei der Bestattung nur einen (sozialistischen) Redner zu haben, wie dieses im Westen unnormal war. (Hier darf wiederum bei der Beurteilung der Lage in Westdeutschland nicht übersehen werden, dass die Anzahl der Kirchenmitglieder und die Inanspruchnahme der Kirche für private Feste auch nur wenig darüber aussagten, welche Bedeutung Gott und christliches Handeln für den einzelnen wirklich hat.) Im Westen brauchte es eine Entscheidung, um aus der Kirche auszutreten. Im Osten musste man sich entscheiden, weiter zur Kirche gehören zu wollen.

So ging es bei dem SED/SPD-Papier „Zum Streit der Ideologien ...“ vom September im Vorfeld des Honecker-Besuches in Westdeutschland weniger um die Inhalte, sondern mehr um die damit erzeugte Wirkung nach außen und nach innen. Mich ärgerte die Stellungnahme meiner Kirche, die die Formel vom "friedlichen Wettstreit der Systeme" übernommen hatte und ausschließlich positiv wertete. Denn dafür war schon die erste Voraussetzung nicht erfüllt, wie ich damals notierte, nämlich „daß jeder die Seite, auf der er streiten will, frei wählen kann ...“ Die Diskussionen darüber waren mir wichtiger als über die ideologischen Inhalte. Aber selbst wer diese Inhalte zitierte, wurde abgemahnt: dass dieses Papier nicht für die Argumentation innerhalb der DDR gedacht sei.

Völlig unübersichtlich wird die Lage beim Versuch, christliches und politisches Handeln in der DDR und das von Personen und Kirche auseinander zu halten, da es zahlreiche Kirchenvertreter gab, die Oppositionsgruppen (politisch) disziplinierten mit Verweis auf den religiösen Auftrag der Kirche und fragliche theologische Argumentationsketten vortrugen. Sie bewiesen damit vor allem, dass sie wenig Verständnis für Politik und Machtfragen hatten, indem sie unbewusst die Rolle des totalitären Staates übernahmen. Da war es sogar manchmal einfacher, mit denen zu streiten, die diese Rolle bewusst spielten, auch wenn wir das damals nicht wußten. Die Begriffe IM oder Inoffizieller Mitarbeiter waren zwar unbekannt, aber dass verdeckte Stasispitzel mehr oder weniger immer dabei sein konnten, vergrößerte für alle diese Unübersichtlichkeit.

Da ich kein undifferenziertes Bild der Kirchen in der DDR zeichnen möchte, beschränke ich mich auf zwei wesentliche Konfliktlinien aus diesen vergangenen Tagen, die m. E. auch heute für die Fragen nach christlichem Reden und Handeln relevant sind:

Erstens: Wir müssen klar auseinanderhalten, wo wir über Glaube und Religion sprechen und es um dasEvangelium Jesu Christi geht, und wo wir im politischen Interessenstreit mehr oder weniger offen Machtfragen thematisieren. Damals wie heute wäre schon viel gewonnen, wenn wir versuchten, in beiden Feldern ehrlich zu sein. Das würde bedeuten, das Zentrum unseres Glaubens nicht aus dem Auge zu verlieren und in der Politik nicht heuchlerisch oder naiv von Sachfragen sprechen, solange die Machtfragen die Hauptrolle spielen. Weder Transzendenz noch Macht sind aber Begriffe, mit denen die meisten Menschen heute etwas anfangen können.

Es hilft auch kaum, über den Rückgang der Amtskirche und den schwindenden Einfluss kirchlicher Institutionen zu klagen, wenn die geistlichen Inhalte, für die sie stehen sollen, dabei auf der Strecke zu bleiben drohen. Welch einen gottverlassen Eindruck eine Region macht, hängt also nicht nur damit zusammen, wie viele Katholiken oder Protestanten dort leben, wie viele Kirchen dort stehen und wie viele Stunden Religionsunterricht dort an staatlichen Schulen erteilt werden. Es bleibt nach meiner Überzeugung – so wichtig das andere alles ist und nicht vernachlässigt werden darf – die große Herausforderung für jeden einzelnen Christen, sein Christsein selbst leben und zeigen zu wollen. Wenn (Kirchen-)Macht wichtiger ist als Jesus Christus und die Heilige Schrift, dann ist das im Bereich von Institutionen und Politik etwas durchaus Normales und Selbstverständliches; aber es beschreibt höchstens die halbe Wirklichkeit. Das Fehlen einer (christlichen) Orientierung fällt solange nicht auf, wie wir uns im jeweiligen System machtkonform oder auch nur entsprechend der intern geltenden Regeln verhalten. Erst wenn der Mut gefordert ist und wir in unserer je individuellen Verantwortung gefragt sind, diese Grenzen des Normalen und Üblichen zu überschreiten, brauchen wir festen Halt und tiefe Wurzeln. Auch Kirchen und Politik verdanken ihre christliche Orientierung den konkreten Menschen, die versuchen, glaubwürdig als Christen zu leben.

Und zweitens: Es ist von wesentlicher Bedeutung, wie tief und wie existentiell ich die je unterschiedlichen Fragen aus diesen beiden Lebenswirklichkeiten an mich heran lasse und die Spannung zwischen Geist und Macht, zwischen Christsein und Politikersein aushalte. Auch das ist kein neuer Gedanke, denn die Geschichte nach Luther hat bewiesen, dass die großen Themen seiner Theologie: Gesetz und Evangelium, Reich Christi und Reich der Welt, Glaube und Rechtfertigung, Freiheit und Unfreiheit, auch die Spannungsquellen sind, aus denen immer wieder die großen Bewegungen in den christlichen Kirchen und den Völkern Europas entsprungen sind.

Auch christliches Handeln muss Rücksicht nehmen auf Erfolgskriterien, nach denen Aufstieg und Fall in dieser Welt organisiert werden, aber nicht nur. Dieses Handeln hat einen Mehrwert an Wissen und damit immer ein paar zusätzliche Optionen. Vielleicht kann man es auch ganz einfach sagen: Christliches Reden und Handeln ist Reden und Handeln mit etwas mehr Mut. Dieser Mut, der uns neue Handlungsräume öffnet, kommt immer aus beidem, aus Selbstvertrauen und Gottvertrauen. Es ist kein Übermut, weil wir uns selbst nicht überschätzen und Gott nicht unterschätzen.

Der heute notwendige Mut besteht nicht mehr in einer politischen Aktion oder Ersatzleistung. „Gegenöffentlichkeit“ muss nicht mehr über Kirchen hergestellt werden und auch das Thema Kirchenasyl muss im freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat rechtsstaatlich gelöst werden.

Mut braucht es heute vor allem, die eigentlichen Themen der Kirche im öffentlichen Raum der „Fit-for-Fun-Gesellschaft“ und im konkreten Gespräch mit Arbeitskollegen und Freunden anzusprechen. Wenn es stimmen sollte, dass dieser Staat heute von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann, dann sind die Kirchen wieder oder immer noch in einer Situation, die sie für die Gesellschaft unentbehrlich macht. Es geht dann nicht mehr um die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit zur herrschenden politischen Meinung, sondern um den Erhalt und die Erneuerung der Werteverwurzelung unserer freien Gesellschaft, in der alles gleich gültig erscheint und deshalb alles gleichgültig zu werden droht.